Entstehung des Reichswirtschaftsamtes im Deutschen Reich

Nachfolgende Text wurde entnommen aus dem Buch:  Wirtschaftspolitik in Deutschland 1917–1990
https://doi.org/10.1515/9783110465266-001

Vorwort
Das hier vorgelegte Werk bildet den Abschlussbericht der im November 2011 berufenen Unabhängigen Geschichtskommission zur Aufarbeitung der Geschichte des Bundeswirtschaftsministeriums (BMWi) und seiner Vorgängerinstitutionen. In vier Bänden befasst es sich mit der Geschichte des Hauses und der Wirtschaftspolitik in Deutschland seit Gründung des Reichswirtschaftsamts 1917 bis hin zur Wiedervereinigung 1990 sowie parallel mit den Strukturen der Wirtschaftspolitik in der SBZ/DDR von 1945 bis 1990.

Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie von heute geht – mit der Unterbrechung durch die Besatzungszeit nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches – zurück auf die Umstrukturierung der Reichsleitung des Deutschen Reiches am 21. Oktober 1917, im vierten Jahr des Ersten Weltkriegs. An diesem Tag unterzeichnete Kaiser Wilhelm II. im Großen Hauptquartier in Bad Kreuznach den Erlass zur Errichtung des Reichswirtschaftsamts (RWA). Am selben Tag bestellte er den Unterstaatssekretär (UStS) im Reichsamt des Innern (RAI) und Straßburger Bürgermeister Dr. Rudolf Schwander zum Staatssekretär (StS) dieser neuen obersten Reichsbehörde und zum Stellvertreter des Reichskanzlers (RK) für die Angelegenheiten dieses Ressorts.
Die meisten Aufgaben dieses 1917 gegründeten, einem Ministerium ver-gleichbaren Reichsamts waren allerdings keineswegs neu. Sie hatten sich auf der im Föderalismus zentralen Ebene des Reichs auch schon lange zuvor gestellt. Das war so im Deutschen Reich von 1871 und im Norddeutschen Bund von 1867, teil-weise auch schon im Rahmen der Provisorischen Zentralgewalt der deutschen Revolution von 1848 und zuvor im Deutschen Zollverein von 1834 und noch früher sogar schon in dem 1806 aufgelösten Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Stets stellten sich diese Aufgaben nicht nur auf der zentralen Ebene, sondern erst recht auf der Ebene der einzelnen Länder. Seit dem Westfälischen Frieden von 1648 kam den einzelnen Fürsten im Reich mit der ihnen damals zuge-schriebenen Landeshoheit ein der Souveränität weitgehend naher, aber wegen der Bindung an Kaiser und Reich noch nicht ganz identischer Status zu. Für die Frage, wie diese Aufgaben im Einzelnen wahrgenommen wurden, waren die Auf-fassungen darüber entscheidend, welche Regelungs- und Eingriffsbefugnisse dem Herrscher und dem sich ihm gegenüber verselbstständigenden Staat hin-sichtlich der wirtschaftlichen Betätigung der Untertanen zustehen sollten.

Der erste Staatssekretär des Reichswirtschaftsamts (RWA), Dr. Rudolf Schwander, haderte von Anfang an mit seiner Berufung zum Unterstaatssekretär (UStS) und designierten ersten Staatssekretär (StS) des aus der Teilung des Reichsamts des Innern (RAI) herauswachsenden neuen Reichswirtschaftsamts (RWA). Das zeigte schon seine zweifache Ablehnung dieses Rufes, bevor er unter dem massi-ven Druck von Reichskanzler (RK) Dr. Georg Michaelis im August 1917 annahm. Nachdem er im September nach Berlin gekommen war, sah er deutlich das „Berliner Regierungselend“ und war innerlich spätestens am 6. Oktober zum Rücktritt entschlossen, noch bevor er am 21. Oktober förmlich ernannt wurde.1 Dennoch engagierte er sich in erheblichem Maße für die Aufgabe, aus dem vergleichsweise riesigen RAI die wirtschafts- und sozialpolitischen Abteilungen in eine neue Organisation an einem neuen Ort zu überführen.

Schwander als Schöpfer der Organisationsstruk­tur des neuen Reichswirtschaftsamts
Erste Pläne für die Organisation des neuen Reichsamts im Reichskommissariat für Übergangswirtschaft

Ein Schlüsselereignis war der mündliche Bericht über das Reichskommissariat für Übergangswirtschaft, den der Vortragende Rat Dr. Otto Wiedfeldt am 18. September 1917 dem designierten StS Schwander erstattete, der fünf Monate zuvor noch für den StS des RAI, Dr. Karl Helfferich, eine Knebelungsverordnung gegen diese Institution entworfen hatte.

Der Haushalt des Reichswirtschaftsamts [sic] ist deshalb schwer zu übersehen, weil in keinem Ministerium so große organisatorische Änderungen eingetreten sind wie in diesem. Im Jahre 1917 gehörte der Haushalt noch zum Reichsamt des Innern, im Jahre 1918 zum Reichswirtschaftsamt. Dann wurde das Reichsarbeitsministerium abgezweigt, und neuerdings ist das Reichsernährungsministerium hinzugetreten. Insbesondere durch diesen Zutritt sind dem Ministerium gewaltige neue Aufgaben erwachsen, die in einer entspre-chenden Vermehrung der Stellen ihren Ausdruck finden. Das Ministerium beschäftigt weit über 1000 Beamte und Angestellte, ganz abgesehen von den Kriegsorganisationen, die ihm unterstellt sind.


Netzfund:

Industrie und Wirtschaft im Deutschen Reich 1871 – 1914

Nach der Reichsgründung 1871 nahmen Industrie und Wirtschaft einen rasanten Aufschwung: Deutschland entwickelte sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts von einem überwiegenden Agrarstaat zu einem industriell und großstädtisch geprägten Land. Zwischen 1871 und 1914 versechsfachte sich Deutschlands industrielle Produktion, die Ausfuhren vervierfachten sich. Nach dem sogenannten Gründerkrach überflügelten die deutsche Industrie und Wirtschaft in der von Mitte der 1890er Jahre bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs anhaltenden Hochkonjuktur das bis dahin führende Großbritannien. Bis 1914 entwickelte sich Deutschland zur größten Industrienation Europas: Sein Anteil an der Weltindustrieproduktion lag bei rund 15 Prozent, der britische Anteil bei 14 und der US-amerikanische bei 32 Prozent. Aus der von Großbritannien zur Kennzeichnung von Waren vermeintlich minderer Qualität eingeführten Herkunftbezeichnung „Made in Germany“ war ein Qualitätsnachweis geworden. Doch trotz Industrialisierung und Urbanisierung blieb Deutschland eines der wichtigsten europäischen Agrarländer.

Die zahlreichen technisch-industriellen Errungenschaften veränderten auch das Alltagsleben nachhaltig. In allen industriellen Zentren entstand mit den Industriearbeitern und den Angestellten ein neuer Typ von Arbeitnehmern. Bei einem kontinuierlichen Anstieg der Produktion sank die wöchentliche Arbeitszeit von 72 Stunden (1872) über 62 Stunden (1900) auf 57 Stunden (1914). Gleichzeitig stiegen die Reallöhne kontinuierlich an, die Lebensverhältnisse großer Bevölkerungskreise verbesserten sich, nicht zuletzt auch durch die staatliche Sozialgesetzgebung.

Während der Anteil der in der Landwirtschaft tätigen Bevölkerung 1871 bei rund der Hälfte der Gesamtbeschäftigten lag, reduzierte er sich bis 1907 auf 34 Prozent, gleichzeitig stieg der Anteil der im gewerblichen Sektor Tätigen von rund 29 auf 40 Prozent. Von diesen wiederum arbeiteten zu Beginn des 20. Jahrhunderts rund 60 Prozent in der Industrie und knapp 35 Prozent im Handwerk. Die „alten“ Industrien der „ersten“ industriellen Revolution wie die Montanindustrie und der Bergbau erhöhten kontinuierlich die Produktion und absorbierten immer mehr Arbeitskräfte. Millionen Menschen wanderten seit Mitte des 19. Jahrhunderts aus den Agrargebieten in die expandierenden industriellen Zentren ab. Diese lagen in Berlin, im Aachener Becken, im lothringisch-saarländischen Eisenerzrevier, im sächsisch-thüringischen Raum, im Rhein-Main-Gebiet, in Oberschlesien sowie vor allem im Ruhrgebiet.

Die Industrialisierung ging einher mit einer außerordentlichen Steigerung des Energieverbrauchs, der vor allem von Stein- und Braunkohle gedeckt wurde. Für die Entwicklung der Industrie von entscheidender Bedeutung war die enorme Erhöhung von Transportkapazität und -geschwindigkeit bei gleichzeitiger Reduzierung der Kosten durch die Eisenbahn, die ein Motor des Wirtschaftswachstums und Zusammenwachsens des Deutschen Reichs war. Die Eisenbahn, deren Streckennetz von 1870 bis 1913 von 18.876 auf 63.378 Kilometer zunahm, erlaubte die Erschließung entfernterer Rohstoffvorkommen und neuer Märkte. Neben der Eisenbahn war das Schiff wichtigstes Transportmittel. Zwischen 1871 und 1912 verzehnfachte sich die Beförderungsleistung der deutschen Handelsschiffahrt auf den Weltmeeren.

Die beiden letzten Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg standen in Deutschland im Zeichen wirtschaftlicher Hochkonjunktur. Eng verbunden mit der Zunahme deutscher Exporte war der rasante Aufstieg der neuen industriellen Leitsektoren: Maschinenbau sowie vor allem Großchemie und Elektroindustrie. Bei der Entwicklung neuer, zukunftsträchtiger Technologien auf dem Gebiet der Elektrotechnik und der Chemischen Industrie belegte Deutschland dank des intensiven Zusammenwirkens von wissenschaftlicher Forschung und Kapital, das Investoren zur Verfügung stellten, weltweit einen führenden Platz. Nicht zuletzt mit Hilfe dieses Investitionsschubs überwand Deutschland die Folgen der „Gründerkrise“.

Wertschöpfung des Deutschen Reiches nach Wirtschaftsbereichen bis 1913

Die Wirtschaft des deutschen Kaiserreichs entwickelte sich rasant. Die gesamte Wertschöpfung stieg von knapp 14,2 Milliarden Mark im Jahr 1870 auf knapp 48,5 Milliarden Mark im Jahr 1913. In diesen Zeitraum fällt auch die Phase der Hochindustrialisierung, was sich in einer starken Verschiebung der einzelnen Wirtschaftszweige äußerte.

Die Wertschöpfung des Landwirtschafts-, Forst- und Fischereisektors im Jahr 1870 betrug rund 5,7 Milliarden Mark und war damit der mit Abstand größte Wirtschaftsbereich. Ab 1889 überflügelte jedoch der Bereich Industrie und Handwerk diesen Bereich und gewann danach zunehmend weiter an Bedeutung, so daß die industrielle und handwerkliche Wertschöpfung im Jahr 1913 knapp 20 Milliarden erreichte. Der Begriff Wertschöpfung beschreibt den Beitrag eines Bereiches oder Unternehmens zum Volkseinkommen.